Fincastürme-Leseprobe

PROLOG

Als Lisa zur Tür hereinwirbelte, sah Juan von seinem medizinischen Bericht auf und erhob sich. Nur zu willig ließ Lisa sich umarmen, während fünf Hunde die Aufmerksamkeit ihres Frauchens zu erlangen versuchten.
„Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich den ganzen Tag vermisst habe“, rief sie.
Die Hunde sprangen und bellten, doch weder Juan noch Lisa achteten darauf, küssten sich so selbstvergessen wie sonst nur Frischverliebte. Dabei lag ihre Heirat schon einige Zeit zurück.
„Ich liebe dich“, flüsterte Lisa, als Juan sie freigab.
„Wie war denn dein Tag?“, fragte er und klang, als wäre er schnell gelaufen.
„Hast du heute sicher keinen Bereitschaftsdienst?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Antonio ist an der Reihe.“
„Dann gehört diese Nacht endlich einmal uns beiden allein.“
„Das tut doch jede Nacht, mein Herz“, sagte er und kam ihrem Wunsch nach weiteren Umarmungen bereitwillig entgegen.
„Mama“, schnitt plötzlich eine hohe Kinderstimme durch das Hundegebell.
Lisa entwand sich der Umarmung und fuhr herum.
„Joan. Mein Schätzchen“, rief sie und fing den stolpernden Jungen auf. Ihr fragender Blick suchte den ihres Mannes.
„Oma Helene und Gert mussten unerwartet zu einem Informationsabend anlässlich ihrer geplanten Kreuzfahrt. Also haben sie mich ersucht, Joan erst morgen statt heute zu bringen“, beantwortete Juan die unausgesprochene Frage.
„Morgen ist aber dein Bereitschaftsdienst“, murmelte Lisa.
Juan steckte die Hände in die Taschen und zuckte die Schultern.
„Mist“, entfuhr es Lisa.
„Mist“, wiederholte der Junge. Er war etwa drei Jahre alt und hatte die blonden Haare seiner Mutter sowie die dunklen Augen des Vaters geerbt. Lisa drückte ihn an sich, versuchte, mit der freien Hand mehrere Hundeköpfe zu kraulen, und war offensichtlich bemüht, dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Basta“, befahl Juan mit lauter Stimme und die Hunde gehorchten augenblicklich. „Fuera mit euch“, fügte er hinzu, und sie trollten sich ins Freie.
Nur eine Golden-Retriever-Hündin blieb, wartete, bis Lisa ihr über den Kopf strich. „Ist ja gut, Caja, meine Süße“, sagte sie dabei etwas abwesend. Ganz offensichtlich war sie mit ihren Gedanken woanders.
Die Hündin schien dennoch zufrieden, rollte sich zusammen auf dem Teppich, der den Terrazzoboden der Halle bedeckte, die ihren Bewohnern offensichtlich als Wohnraum diente.
Die gediegene Einrichtung zeugte gleichermaßen von Geschmack wie Wohlstand und stammte aus der Zeit von Juans Eltern.
Jahre später, als Juans Familie nur noch aus ihm und seinen Großeltern bestanden hatte, nutzte er die kleine Einliegerwohnung, während die prächtigen Räume leer blieben.
Seit der Heirat mit Lisa aber wurden wieder alle Räume bewohnt, und es war Juans größter Wunsch, das Haus mit Leben zu füllen.
Ein Wunsch, dem Lisa anfänglich nur zögernd folgte, ein wenig überfordert mit der Überlegung, wie sich zahlreicher Kindersegen mit ihrer Tätigkeit als Anwältin vereinbaren ließe. Doch spätestens seit ihre Freundin Emely Mutter war, wünschte sich Lisa weitere Kinder. Außerdem erwartete Marika, die dritte der Freundinnen, gerade ihr erstes Kind.
Diese Frauen – samt Ehemännern – zählte Lisa zu ihrer Familie. Und dachte immer öfter an eine weitere Schwangerschaft.
Nicht nur deshalb hatte Lisa sich auf den Abend mit Juan gefreut. Sie beide allein, ohne dass jemand störte oder Juan zu einem Notfall gerufen wurde. Denn die Tierklinik, die er zusammen mit seinem Freund Antonio führte, war rund um die Uhr besetzt.
Lisas Großmutter Helene aber, die eigens nach Mallorca gezogen war, um ihre Großenkel aufwachsen zu sehen, war längst nicht nur Lisas Großmutter allein. Ihre „drei Mädchen“, wie sie Lisa, Marika und Emely nannte, wurden alle von ihr bemuttert.
Seit dann der Witwer Gert in die angrenzende Casita gezogen war, hatte Lisas Großmutter einen mehr, den es zu verwöhnen galt. Gutes Essen – für das Helene, die Wienerin, bekannt war –, ein offenes Ohr und ein Rat in jeder Lebenslage, hatten schnell bewirkt, dass Gert nicht länger einsam war. Und Helene auch nicht. Jetzt planten sie eine Schiffsreise zusammen. Ein Umstand, der Lisa immer noch ein Stirnrunzeln entlockte.
Den Jungen an der Hand erhob sie sich.
„Hunger“, protestierte der Kleine.
„Du hast doch gerade gegessen“, sagte der Vater.
„Spielen.“
„Im Leben nicht, mein Schatz, es ist acht Uhr vorbei. Du gehörst längst ins Bett“, meinte Lisa.
„Ich bin nicht müde.“
Juan nahm den Sohn auf den Arm.
„Märchen erzählen“, rief Joan.
„Habe ich dir denn nicht soeben eines vorgelesen?“, schmunzelte der Vater.
Lisa umfasste Mann und Kind zugleich, schmiegte sich an beide. Eine Weile standen sie so beisammen. Bis Lisa fragte: „Wenn wir alle zusammen eine Geschichte lesen, schläfst du dann?“
Joan nickte.
„Ich hole dir etwas zu trinken, und Papa trägt dich in dein Zimmer.“
„Hier schlafen.“
„Nein, mein Schatz. Du gehst in dein eigenes Bett.“

***

Es verging einige Zeit, ehe Lisa und ihr Mann auf die Terrasse traten, die Rotweingläser samt Babyfon dabei.
„Hast du Hunger? Soll ich dir etwas zu essen richten?“, fragte Juan.
Lisa schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihm.
„Also, wie war dein Tag?“, fragte er, während er den Arm um sie legte.
„Stressig, wie die ganze Woche. In der Gestoria war schrecklich viel los. Ich bin echt froh, wenn Jaime endlich aus dem Urlaub zurückkommt. Und wie war es bei dir?“
„Wenn Antonio nicht seinen freien Nachmittag geopfert und mir geholfen hätte – wäre ich immer noch nicht daheim.“
Lisa seufzte.
„Das geht so auf Dauer nicht weiter. Wir sind beide im Dauerstress. Unentwegt müssen die anderen einspringen, damit wir nur ein wenig Zeit füreinander erübrigen können.“
„Hm“, sagte Juan nur, seine Lippen mit Lisas Haar beschäftigt.
„Es ist ja okay, dass Joan in den Kindergarten geht, das tun hier die meisten Kinder in seinem Alter. Aber nur am Vormittag, so war es abgemacht. Danach sollte er mit uns sein dürfen. Oder mit meiner Oma. Nur denke ich, dass für sie alles ein wenig zu viel wird. Da ist die kleine Maria, die sie bemuttert, damit Emely und Salvatore etwas Auszeit haben. Wenn erst noch der Junge von Dean und Marika auf der Welt ist …“
„Woher weißt du denn, dass es ein Bub wird?“, fragte Juan.
„Marika hat es mir gesagt. Sie ist völlig ausgeflippt vor Begeisterung. Kam mit gleich mehreren Sonografieaufnahmen zur Tür hereingestürzt“, lächelte Lisa. „Erinnerst du dich noch an die ersten Bilder von unserem Joan?“
Zärtlich streichelte er sie.
„Eigentlich“, fuhr sie fort und kuschelte sich an ihren Mann, „wollte ich dich heute endlich wieder einmal verführen.“
Seine Lippen wanderten zu ihrem Mund, wo sie längere Zeit verweilten.
„Wer hindert dich, deinen Vorsatz umzusetzen?“, fragte er, während seine Hände über ihren Körper strichen.
„Ich hatte geplant, mich in ein sündiges Dessous zu werfen, für dich“, schmunzelte sie.
„Woher hast du denn sündige Dessous?“, fragte er und fuhr fort, sie zu berühren, was ihr leise Seufzer entlockte.
„Marika hat sie mir geschenkt. Sie meinte, ich würde das jetzt dringend brauchen.“
„Typisch Marika“, sagte Juan. „Und wann bekomme ich dieses sündige Teil endlich zu Gesicht?“
„Vielleicht nach einem gemeinsamen Schaumbad“, kicherte sie.
„Wenn du willst, lasse ich uns eines ein.“
Eine Weile sprachen sie nicht.
„Das geht ja nun heute wieder einmal nicht“, seufzte sie dann.
„Weshalb nicht?“
„Was machen wir denn, wenn Joan plötzlich aufwacht?“
„Dann schicken wir ihn zurück ins Bett.“ Juans Augen glitzerten, während sich seine Hände verselbstständigten.
„Das können wir unmöglich tun“, widersprach Lisa wenig überzeugend. „Was, wenn wir gerade dabei sind …“ Sie brach ab, während eine verräterische Röte ihre Wangen färbte.
„Man kann Kinder nicht früh genug aufklären.“ Juan verbiss sich ein Lachen.
„Hör auf mit dem Unfug.“
„Immer noch meine prüde Lisa?“, neckte er. „Was soll ich denn noch alles mit dir anstellen, um dich ein wenig aufzulockern?“
„Nur weil ich nicht … im Beisein unseres Kindes …“ Lisa entschlüpfte der Umarmung.
„Wir könnten die Tür absperren, wenn du möchtest“, raunte er ihr zu und zog sie auf seinen Schoß. „Und diese sündige Wäsche führst du mir nächstens vor. Sobald Oma Helene Zeit für Joan hat.“
Lisa gab nach, willig schmiegte sie sich an ihn. „Und du keinen Bereitschaftsdienst hast. Oder sonst etwas dazwischenkommt. Vermutlich also nicht vor Ablauf der nächsten zehn Jahre“, sagte sie.
„Um ehrlich zu sein, würde ich diese sündigen Dinger lieber etwas früher an meiner gesetzten Anwältin bewundern“, meinte Juan. „Bevor wir beide in Rente sind. Warum eigentlich engagieren wir keine Hilfe?“
„Was denn für eine Hilfe?“
„Jemanden, der auf unsere Kleinen aufpasst. Ich habe schon mit Salvatore gesprochen. Er hat zugestimmt. Ehe wir Eltern waren, konnten wir alle zusammen spontan etwas unternehmen, sind zum Tanzen gegangen oder nach Palma gefahren. Das sollten wir wieder tun können. Zumindest einmal in der Woche. Ein Abend, der nur uns gehört, an dem wir Mann und Frau sind. Nicht nur Papa und Mama.“
„Ich vertraue unser Kind doch nicht irgendwem an. Einem fremden Babysitter oder Au-pair-Mädchen. Auf keinen Fall. Wie willst du denn wissen, mit wem du es zu tun hast?“, protestierte Lisa.
„Ich dachte mehr an jemanden, der ständig hier wohnt.“
„Wie sollte das denn gehen?“
„Die Mieter in der dritten Casita werden ihren Mietvertrag nicht erneuern. Zehn Jahre auf der Insel reichen ihnen, haben sie gesagt. Sie wollen keinen Zweitwohnsitz mehr, sondern spontan reisen können, nicht immer an denselben Ort. Folglich wird das Haus oberhalb von Gert frei. Ich habe überlegt – wir könnten dort eine Art Dienstwohnung machen und die Kosten teilen. Salvatore ist an Bord und ich denke, dass Dean ebenfalls mitmacht. Marika möchte ihre Tätigkeit als Modedesignerin nach der Geburt nicht aufgeben. Das Geschäft boomt ja dermaßen, dass sie und Catalina schon an eine Filiale in Palma denken. Folglich brauchen auch Dean und Marika verlässliche Hilfe. Eine Person, die eher ein Teil unserer Familie ist, nicht bloß eine Angestellte.“
„Und wo willst du so jemanden auftreiben?“
„Jochen, Deans Verleger, kennt bestimmt eine Agentur in Deutschland, die das erledigt. Den Lebenslauf genauestens durchcheckt. Es muss ja keine gelernte Kinderbetreuerin sein … nur kinderliebend und absolut vertrauensvoll sollte sie sein. Vielleicht jemand, der eine neue Aufgabe sucht. Eine ältere Frau zum Beispiel, deren Kinder schon erwachsen sind. Oder eine kleine Familie, die von einem Neustart auf Mallorca träumt. Jedenfalls müssten sie keine Miete zahlen und hätten ein Grundeinkommen. Krankenversichert wären sie ebenfalls.“
„Und ich bräuchte nicht pausenlos auf die Uhr sehen“, überlegte Lisa nachdenklich. „Bei jeder Besprechung, die etwas länger dauert als geplant, nervös werden, weil Joan auf mich wartet, abgeholt werden muss. Unentwegt deine Großmutter um Hilfe bitten“, meinte sie. „Keine Frage, dass deine Großeltern uns mehr als gerne helfen, aber irgendwann sollten wir die Dinge selbst geregelt bekommen, nicht ständig auf andere angewiesen sein.“
„Und Antonio müsste nicht ununterbrochen einspringen, wenn eine außerplanmäßige Operation ansteht. Weil ich zum Kindergarten soll, wenn du länger in der Gestoria bist“, nickte Juan.
„Wir könnten unsere Arbeit besser einteilen, zur selben Tageszeit unterbringen … und hätten mehr Freiraum. Zeit, die wir gemeinsam verbringen könnten, mit unserem Kind. Aber auch allein. Nur wir beide.“
Juan hielt Lisa im Arm. Zärtlich knabberte er an ihrem Ohr, lächelte, als er merkte, dass sie schneller atmete.
„Und könnten endlich einmal ungestört …“, seufzte sie.
„Sag das noch mal, ich habe es nicht genau verstanden.“
Lisa schlang ihm die Arme um den Hals.
„Du bist ganz schön schwer“, stellte er fest, als er sich mit ihr zusammen von der Bank erhob. „Hast du etwa zugenommen?“
„Du bist lediglich aus der Übung.“
„Dann lass uns sehen, dass ich wieder in Form komme.“
Lisa strampelte. „Wie ich da so merke … gänzlich aus der Übung bist du zum Glück noch nicht.“
Danach sprachen sie länger nichts, offenbar überrascht von der Heftigkeit ihrer Emotionen.
„Komm“, drängte schließlich Juan. „Das Bett … gleich hier unten, im Arbeitszimmer. Ich will dich.“
„Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt“, flüsterte Lisa.
Juan hob sie hoch.
„Warte. Das Babyfon. Auf der Theke.“
„Ich habe es.“
„Küss mich.“
„Zieh das hier endlich aus.“
Verschlungen sanken sie auf die Liege, als von dem Platz, wo Juan das Gerät hingeworfen hatte, immer deutlichere Geräusche kamen, bis das Weinen eines Kindes zu hören war.
„Oh nein. Nicht ausgerechnet jetzt!“
Gleichzeitig setzten sie sich auf. Lisa langte nach ihrem Shirt, während Juan sich mühte, die Hose überzustreifen.
„Ich gehe zu ihm. Lauf nicht weg. Warte auf mich“, murmelte Lisa.
„Bleib, ich erledige das, bin gleich zurück“, sagte Juan.
Dann sahen sie einander an, fingen beide an zu lachen.
„Eine Kinderfrau muss her“, rang Lisa nach Luft.
„Und das dringend“, nickte Juan.

***

Der Sommer hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten, doch immer noch waren die Temperaturen beachtlich, auch wenn man merkte, dass der September seinen Einzug hielt. Trocken waren die Böden, verdorrte Grashalme raschelten im Wind. In der Luft hing der Duft von Kräutern. Bleich und wie verwaschen wirkte der Himmel, der von einer Dunstschicht überzogen war. Einige Wolken türmten sich am Horizont, erste Vorboten der nahenden Herbstgewitter, die aber noch ein wenig auf sich warten lassen würden. Kein Regen war in Sicht, um die Landschaft von dem Staub zu erlösen, der wie ein grauer Schleier über allem lag.
Man konnte das Meer sehen. Doch selbst seine sonst so strahlende Farbe unterschied sich kaum vom Graublau des Himmels.
Langsam ging Marika weiter. Sie liebte es, über den Fincagrund zu streifen. Jeden Tag aufs Neue erfreute sie sich an der Natur, an dem Geruch, den Farben.
Viele Jahre lebte sie schon auf der Insel, wenn auch nicht in diesem prächtigen Haus hier. Zusammen mit Dean, ihrem Mann, der es als Heim gekauft hatte. Ihnen beiden – und allen Tieren.
Nichts hätte Marika seine Liebe stärker beweisen können. Nicht nur, weil das Haus wundervoll war. Dean wusste, was ihr die Tiere bedeuteten.
Nach freudloser Kindheit hatte sie sich aus eigener Kraft eine Existenz aufgebaut, mit Juans Hilfe, der Marika ein Freund wurde. Der Tierarzt hatte Marika seine Casita vermietet.
Ohne Juans Hilfe hätte Marika ihren Neustart auf Mallorca vermutlich nicht geschafft. Nicht, dass sie ihm jemals etwas schuldig geblieben war. Dazu war sie zu stolz. Doch während der langen Wintermonate, wenn das Geld, das sie sich als Schneiderin verdiente, nicht ausreichte, um pünktlich die Miete zu zahlen – hatte er weitergeholfen. Dazu ihre anwachsende Tierschar kostenlos behandelt.
Denn sobald Marika ein Tier in Not sah, musste sie helfen. Ungeachtet ihres Budgets.
Gott hat immer gesorgt, er wird es weiter tun, war ihr Credo. Letztendlich war es dieses große Herz, in das sich der erfolgreiche Krimiautor Dean Vossbrick verliebt hatte.
Das Haus selbst war es nicht, das Marika von Deans Liebe überzeugte. Es war seine Bereitschaft gewesen, Marikas Tieren eine Heimat zu geben, im Wissen, dass sie nur glücklich war, wenn es die Tiere auch sein durften. Inzwischen beherbergten sie einen kleinen Zoo, wenn auch der etwas anderen Art. Arche Noah wäre die bessere Bezeichnung gewesen. Denn außer Mäusen, einer Ratte, Kaninchen, Schildkröten, Katzen und Hunden zogen ein Kakadu, Vögel, Meerschweinchen und Hamster, ein alter Esel – der sich der Gesellschaft zweier Ponys und eines Pferdes erfreuen durfte – sowie drei Hängebauchschweine, eine Ziege und einige Schafe ein.
Äpfel, altes Brot, Kauknochen und sonstige Leckereien hatte Marika immer dabei, wenn sie ihre Runde über das Grundstück drehte. Über die Anschaffungskosten brauchte sie sich keine Gedanken mehr zu machen – nicht nur ihr Mann, auch sie selbst verdiente inzwischen genug, seit sie mit Catalina, ihrer Partnerin, eigene Mode entwarf. Sogar eine zusätzliche Schneiderin musste inzwischen beschäftigt werden. Derart groß war die Nachfrage.
Jetzt war Marika schwanger und ihr Glück hätte vollständiger nicht sein können. Was früher undenkbar war – mit Dean waren alle Ängste verflogen.
Die Leckereien waren verteilt und sogar der Esel, gierig nach saftigen Äpfeln, hatte sich getrollt.
Marika beobachtete einen Schmetterling, der sich auf einer Distelblüte niederließ, seine schillernden Flügel öffnete und schloss – sah zum Himmel, wo die Schwalben ihre Bahnen zogen, und zum Meer, dessen schimmernder Streifen Land und Horizont einte, wie er es jeden Tag aufs Neue tat.
Im Schatten des Johannisbrotbaums, dessen Früchte sich langsam braun färbten, setzte sie sich auf einen Stein. Dabei fasste sie nach einer der Schoten und zerkrümelte sie zwischen den Fingern.
Vier Monate noch und sie wäre Mutter. Sie und Dean Eltern eines Kindes. Der Gedanke beschleunigte Marikas Atem. Ein Mann. Ein Kind. Ein Heim.
Alles, was sie sich gewünscht hatte, war in Erfüllung gegangen. Dabei hatte sie kaum je zu denken gewagt, dass es etwas Derartiges für sie geben könnte.
Marika beobachtete einen Traktor, der ein Feld pflügte, weit genug entfernt, dass man ihn nicht einmal hörte. Versonnen strich sie über ihren Bauch, der sich deutlich wölbte.
Jetzt iss endlich was Gescheites. Bist ja nur Haut und Knochen. Willst, dass dein Baby Hunger hat? Marika schmunzelte beim Gedanken an Oma Helenes Vortrag. Alle Lieblingsgerichte hatte sie aufgetragen – Germknödel, Leberknödelsuppe, Wiener Schnitzel, dachte Marika und lächelte weiter.
Bis sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Deans Kuss war zärtlich und begehrlich zugleich.
„Woran hast du gerade gedacht?“, fragte er, während er sich neben ihr niederließ.
„An diese wahre Fressorgie bei Helene am letzten Sonntag. Ein einziges Mal möchte ich erleben, dass wir es schaffen, alles aufzuessen.“
„Und ich hatte gehofft, du denkst vielleicht an mich.“
„Das mache ich doch immer.“
„Dann küss mich.“
Eine Weile blieben sie stumm.
„Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich meine wunderschöne Frau liebe“, raunte ihr Dean zu.
„Wo siehst du hier eine wunderschöne Frau? Muss ich etwa eifersüchtig sein?“, neckte Marika.
„Keine ist schöner als du.“
„Dann brauchst du eine Brille.“
„Wie konnte ich jemals ohne dich leben? Hast du eine Ahnung?“
Marika rutschte von ihrem Stein und streckte sich neben ihrem Mann aus. Dabei fasste sie nach seiner Hand und drückte sie auf ihren Bauch. Fürsorglich breitete er eine Decke aus, die er mitgebracht hatte.
„Bald werde ich so dick sein wie ein Wal“, sagte sie.
„Armer Wal.“
„Wieso?“
„Er muss verhungert sein“, sagte Dean und legte seine Hand auf die sanfte Wölbung.
Marika kicherte. Ihre Blicke trafen sich.
„Ich kann es nicht in Worte fassen, wie glücklich ich bin.“
Marika stupste ihn und durchbrach die rührselige Stimmung. Sie grinste. „Das ist schlecht, wenn dir die Worte ausgehen. Du bist Schriftsteller. Wovon sollen wir denn satt werden?“
„Zu essen gibts bei Oma reichlich.“
„Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein.“
Dean zog sie in eine Umarmung, seine Hände fuhren über ihren Körper.
Marika streckte sich und seufzte.
„Hör bloß nicht auf.“
„Habe ich nicht vor.“
„Weißt du noch, wie wir uns einmal im Freien geliebt haben?“
„Hm.“
„Das war schön.“
„Ist es das, was du möchtest, mein Liebling? Die Nächte sind noch warm. Bald ist Vollmond. Was hältst du von einer Wiederholung?“
„So lange will ich aber nicht warten.“
Marika zog an seinem Shirt.
„Es ist helllichter Tag“, sagte er.
„Wen kümmert das? Außer unseren Tieren sieht uns keiner. Und die können es nicht weitersagen.“
Er tastete unter ihr Shirt, berührte ihre Haut, während sich ihre Lippen fanden.
„Du weißt doch, ich kann dir keinen Wunsch abschlagen“, flüsterte er ihr ins Ohr, während sich seine Lippen vom Hals abwärts arbeiteten.
„Schön“, seufzte Marika.
„Liegst du auch bequem?“
„Hast du diese beiden Decken deshalb gebracht? Weißt du eigentlich, dass man mit den Johannisschoten früher Matratzen gefüllt hat?“
Seine Hand streichelte weiter.
„Komm näher“, flüsterte Marika.
„Ich bin ja da.“
„Mehr.“
„Ist es dir so recht?“
„Wunderbar“, seufzte Marika, bevor sie für lange Zeit nichts mehr sprachen.
Irgendwann merkte Marika, dass Dean sich aufstützte, und drehte den Kopf.
„Könnten wir das bald einmal wiederholen?“, fragte sie.
Er lachte. „Wann immer meine Lady es möchte.“
„Sei vorsichtig mit solchen Versprechungen.“
Er erhob sich, suchte nach seinen Shorts, zog das Shirt über und half Marika, die ihn nicht aus den Augen ließ, auf die Beine.
Wieder umarmten sie sich, bis ein lautes Geräusch sie auseinanderfahren ließ.
Marika lachte und Dean drohte dem Esel, der fortfuhr zu wiehern.
Sein Iah, Iah war noch zu hören, als Dean und Marika Hand in Hand zurückgingen, begleitet von ihren Hunden, die voran liefen, auf das Haus zu, wo eine wohlgenährte Katze kaum den Kopf hob, als Marika sie streichelte.
„Hast du heute Abend Zeit für mich?“, fragte sie dann, bevor Dean das Haus betrat.
„Immer. Das weißt du doch. Was hast du denn am Nachmittag vor?“
„Ich muss ins Dorf. Catalina wartet auf mich. Die ersten Stücke der Winterkollektion sind fertig. Danach treffe ich mich mit Emely auf einen Kaffee.“
„Lass sie grüßen.“
„Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?“, fragte Marika.
„Sag es mir noch einmal.“
Marika entwand sich seiner Umarmung. „Wir müssen beide arbeiten.“
„Bis später, mein Liebling. Pass auf dich auf.“
„Wenn du mich nicht loslässt, komme ich zu spät. Ich muss mich noch umziehen.“
„Und bürste deine Haare. Du hast Grasstängel drin“, rief er ihr nach, als sie davonlief.

***

„Entschuldigung, ich bin zu spät!“ Mit diesen Worten stürmte Marika um die Ecke des Lokals im Hafen, das – umringt von den vor Anker liegenden Schiffen – selbst wie ein Floß wirkte. Beinahe wäre sie ausgeglitten, schaffte es in letzter Sekunde, das Gleichgewicht zu halten.
Mit gerunzelten Augenbrauen sah ihr Emely entgegen.
„Könntest du bitte ein wenig langsamer rennen? Sonst bringst du nicht nur dich, sondern auch noch meinen Schwiegersohn um.“
„Den hat bereits Lisa für eine ihrer Töchter reklamiert“, rief Marika übermütig, während sie die Freundin temperamentvoll umarmte.
„Jetzt halt mal ein“, schimpfte Emely, doch ihre vor Vergnügen funkelnden Augen straften die Worte Lügen.
„Und da ist ja auch unsere Prinzessin.“
Marika beugte sich über den Kinderwagen und hob kurz entschlossen das Mädchen heraus. „Groß bist du geworden, seit dem letzten Mal“, stellte sie fest, während sie das Kind an sich drückte.
„Da sieht man wieder, wie selten wir uns treffen“, meinte Emely. „Nie ist Zeit.“
Die kleine Maria fasste nach einer der Haarspangen, mit deren Hilfe Marika ihre rote Lockenmähne gebändigt hatte.
„Möchtest du die haben?“, fragte Marika und löste die Spange aus ihrem Haar.
Ein glucksendes Lachen aus zahnlosem Mund war die Antwort.
„Sie ist echt schwer“, stellte Marika fest.
„In zwei Monaten wird sie ein halbes Jahr alt.“
Marika grinste. „Normale Menschen würden in diesem Fall vielleicht sagen, sie sei vier Monate.“
Emely verdrehte die Augen. „Ich wollte nur sichergehen, dass du mich auch verstehst.“
Der herbeieilende Kellner enthob Marika einer schlagfertigen Antwort.
„Jetzt sag schon, was gibt es so Wichtiges, dass du sogar dein Schloss am Hügel verlässt, um dich außerplanmäßig mit dem gemeinen Volk zu treffen“, nahm Emely das Gespräch wieder auf.
„Da spricht die Richtige. Wer ist denn ausschließlich mit Mann und Kind beschäftigt? Hat für nichts mehr Zeit? Ich gehöre zur arbeitenden Klasse, während du dich nur noch dem Lotterleben hingibst. Nicht einmal im Salon hast du mitgeholfen, während der Saison. Dabei hätte Nuria jede Hand gebrauchen können. Sie sagt, seit das Kind da ist, trägt dich Salvatore nicht nur auf Händen, sondern wickelt dich höchstpersönlich in Goldpapier.“
„Wo hast du Nuria getroffen?“
„Ich habe mir einen neuen Haarschnitt machen lassen. Du hast ja keine Zeit mehr dafür.“
Emely überhörte den Einwand. „Was denn für ein Schnitt? Wenn du so weitermachst, kannst du als Rapunzel deinem Dean einen Zopf zum Fenster hinunterwerfen, falls er mal den Hausschlüssel vergisst.“
Marika wechselte die Farbe, bevor sie losprustete.
„War das so komisch?“, fragte Emely.
„Wir sind vielleicht ein Gespann!“, stöhnte Marika, als sie wieder atmen konnte. „Sieh uns nur an. Zwei toughe Geschäftsfrauen. Selbstbestimmt und unabhängig. Keiner sagt uns, was wir zu tun haben. Niemand mischt sich in unsere Angelegenheiten. So wollten wir sein. Und was ist aus uns geworden?“
Immer noch grinste Marika, langsam verzogen sich auch Emelys Lippen. Dann lachten sie beide. So laut, dass sich einige der Gäste umsahen.
Eine ältere Frau blickte indigniert, das junge Paar am Nebentisch aber lachte mit, obwohl es den Grund der Heiterkeit nicht wissen konnte.
„Mann, oh Mann“, stöhnte Emely und wischte sich die Augen. „Welch ein Glück, dass wenigstens Lisa ihren Prinzipien treu geblieben ist. Und sich von Juan absolut nichts reinreden lässt.“
Die neuerliche Lachsalve suchten beide zu unterdrücken. Dennoch dauerte es eine Weile, bis sie sich beruhigt hatten.
„So gelacht habe ich lange nicht mehr“, sagte dann Marika.
„Über sich selbst zu lachen, hat den Vorteil, dass man den Witz versteht“, nickte Emely. „Es ist aber nicht zu leugnen, dass wir alle drei unter dem Pantoffel stehen. Ich lasse mich behüten wie ein Kleinkind – was ich immer gehasst habe. Du fragst deinen Dean sogar bei der Haarlänge um Rat und Lisa bastelt offenbar an einer eigenen Fußballmannschaft. Keine Rede mehr von Selbstverwirklichung als Anwältin.“
„Sie sollte etwas schneller basteln. Sonst hat unser Junge keine Auswahl an geeigneten Prinzessinnen.“
„Muss er auch nicht. Er heiratet unsere Maria. Eine bessere Frau gibt es nicht. Die Frage ist nur, wie wir umdisponieren, wenn Lisas letzte Bastelarbeit auch ein Junge ist.“
Marikas Kopf drehte sich ruckartig. „Was sagst du? Lisa ist schwanger?“
Emely nickte. „Aber Juan darf es erst wissen, wenn sie beim Arzt war. Also behalt es einstweilen für dich. Kennst ja Lisa.“
„Das ist …“ Marikas Gesicht verschwand hinter der Serviette. „Verdammte Hormone“, schniefte sie dann.
Etwas verstohlen blickte das Paar vom Nebentisch zu ihnen herüber, bevor es die Köpfe zusammensteckte.
„Die müssen uns für Verrückte halten“, raunte Emely.
„Würde ich an deren Stelle auch tun.“
„Na, dann Prost“, sagte Emely und hob ihre Kaffeetasse. „Auf die Fußballmannschaft.“
„Prost“, sagte Marika, bevor sie sich dem Nebentisch zuwandte. „Entschuldigung. Dürfen wir euch vielleicht auf etwas einladen? Wir feiern nämlich. Ich bin schwanger, unsere Freundin Lisa ebenfalls. Und diese hier“, deutete sie auf Emely. „Arbeitet gerade daran.“
„Stimmt doch überhaupt nicht“, protestierte Emely.
„Falls ihr also Ähnliches vorhabt“, fuhr Marika ungerührt fort, „dann ist jetzt die beste Gelegenheit. Muss an Mallorca liegen. Außerdem haben wir bald Vollmond“, beendete sie ihren Satz, schwenkte die Kaffeetasse und rief den Kellner.

***

„Die beiden haben es aber eilig gehabt“, schmunzelte Emely eine halbe Stunde später, als das Paar gegangen war. „Man könnte meinen, wir haben sie verschreckt.“
„Könnte man“, pflichtete Marika bei. „Stimmt aber nicht.“
„Woher willst du das denn wissen?“
Marika beugte sich näher und senkte die Stimme. „Die gehen Babymachen.“
„Unfug.“
„Dreh dich mal um.“
„Was gibts da zu sehen?“
„Jetzt mach. Brauchst nicht einmal diskret sein. Die sehen und hören ohnehin nichts.“
Schmunzelnd beobachten sie dann das junge Paar, das sich im Schatten einer Platane küsste.
„Ich hoffe, sie haben es nicht allzu weit bis ins Hotel“, meinte Emely.
„Notfalls gibt es den Strand“, nickte Marika. „Der ist mit Sicherheit näher.“
„Du hast eine echt schräge Fantasie.“
„Manchmal … ist Fantasie durchaus von Nutzen.“
„Habt ihr es denn schon einmal … am Strand?“, fragte Emely. „Das kann ich mir bei Dean gar nicht vorstellen. Der ist ein echtes Nordlicht. Die benehmen sich anständig.“
„Nicht gerade am Strand. Aber unter Umständen auf einem Boot … oder im Schatten eines Baumes, wo garantiert keiner hinkommt … außer vielleicht einem Esel.“
„Ach ja?“, grinste Emely. „Das ist ja interessant. Dann erzähl ruhig weiter. Aber etwas genauer, wenn ich bitten darf.“
„Nö“, lachte Marika. „Den Tipp hast du bekommen. Ich bin sicher, Salvatore kann deine Neugierde weitaus ausführlicher befriedigen als ich.“
„Und so etwas nennt sich nun Freundin“, brummte Emely mit blitzenden Augen.
„Also, was ist? Wollen wir wetten, was Lisa diesmal bekommt. Bub oder Mädchen?“
„Mädchen“, sagte Emely sofort.
„Dann seht zu, dass eure nächste Heimarbeit ein Junge wird.“
„Salvatore möchte keine weiteren Kinder“, sagte Emely leise. „Er hält sich für zu alt.“
„Quatsch.“
„Ich weiß nicht …“
Marika wandte sich der Freundin zu. „Was ist mit dir? Willst du noch welche?“
Emelys Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde fast melancholisch.
„Früher … da wollte ich gleich mehrere … du weißt, was dann passiert ist, und ich war sicher, niemals Kinder zu haben.“
„Und jetzt?“
„Salvatore ist ein großartiger Vater.“
„Er hat ja einiges an Vorkenntnissen“, stellte Marika fest.
„Pilar und Martí kommen ihre Halbschwester regelmäßig besuchen“, nickte Emely.
„Wie geht es denn Salvatores Ex-Frau?“
„Marga? Bestens. Ich bin froh, dass sie inzwischen mit José verheiratet ist.“
„Sie ist doch schon seit Jahren mit ihm zusammen. Einzig du hast dir den Kopf zerbrochen. Keiner sonst hat gezweifelt, dass Salvatore zu dir gehört.“
„Dennoch ist es mir so lieber“, beharrte Emely. „Übrigens hat Marga angeboten, auf Maria aufzupassen, damit wir zusammen ausgehen können.“
„Dean meint, wir sollten uns nach einer Kinderfrau umsehen.“
„Salvatore hat auch schon davon geredet.“
„Das rechnet sich aber nur, wenn ihr beide mitmacht“, schmunzelte Marika.
„Natürlich“, beeilte sich Emely zu sagen.
„Ich habe nicht das Finanzielle gemeint“, sagte Marika.
„Was denn?“
„Wenn wir eigens eine Kinderfrau einstellen, brauchen wir Kinder zum Hüten. Also seht zu, dass ihr euren Anteil leistet.“
Emely verdrehte die Augen.
Danach saßen sie weiter, schwiegen und blickten auf das Wasser im Hafenbecken, beobachteten die Möwen, die auf der Terrasse stolzierten, nach Futterkrümeln suchten, um mit lautem Geschrei aufzufliegen, wenn sie nichts abbekamen. Und beobachteten die Fische, die sich im Becken tummelten, im Bewusstsein, dass sie hier vor jedem Angelhaken sicher waren.
Emely fasste nach Marikas Hand. „Schön“, sagte sie. „Nicht wahr?“
„Das ist es. Auch, wenn ich es niemals zu hoffen gewagt habe.“
„Ich auch nicht“, nickte Emely.

KAPITEL I

Georgina Möbius saß auf einem der Stühle, die man zu beiden Seiten des Ganges aufgestellt hatte, betrachtete das Plakat an der gegenüberliegenden Wand und wartete. Dabei las sie sämtliche Hinweise, wie man sein Heim effizienter vor Einbrechern schützen konnte. Studierte die Bilder von Sicherheitsschlössern bis hin zur Videoüberwachung – und die Tipps, wie jenen, man solle bei Ortsabwesenheit Werbesendungen von Nachbarn entfernen lassen. Sobald sie beim letzten Satz angelangt war, begann sie von vorne.
„Mami“, meldete sich das kleine Mädchen, das bisher stumm neben ihr saß. Es war etwa vier Jahre alt und hatte die rotblonden Locken zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten. Um die Nasenspitze herum tummelten sich Sommersprossen, die dem Gesichtchen zusätzlichen Liebreiz verliehen.
„Ja?“ Gina musste sich zwingen, den Blick von dem Plakat abzuwenden.
„Ich will nach Hause.“
„Bald, Amy, nur noch ein bisschen Geduld. Wir sind gleich fertig.“
„Womit?“
„Wir bekommen einen neuen Pass.“
„Warum?“
„Mit meinem Mädchennamen.“
„Welchem Namen?“
„Meinem eigenen. Den ich früher hatte, bevor ich Papa geheiratet habe.“
„Wo ist Papa?“
„Papa macht eine lange Reise, das habe ich dir doch schon erklärt.“
„Wann kommt er wieder?“
Georgina seufzte. Sie war eine junge Frau, deren Alter man schwer schätzen konnte – um die dreißig vermutlich, obwohl sie jünger aussah –, apart, mit kinnlangen, blonden Haaren und Augen, deren Farbe zwischen Grau und Grün wechselte, und die sich verdunkelten, wenn ihre Emotionen die Oberhand gewannen.
Gina war eine Frau, die Männern einen zweiten Blick entlockte, insbesondere, wenn sie lachte. Dennoch lag da ein Zug um ihren Mund, der darauf schließen ließ, dass sie in ihrem Leben nicht nur sonnige Seiten erlebt hatte.
„Du musst ein wenig noch Geduld haben, mein Schatz.“
„Wie lange?“
Georgina wurde der Antwort enthoben, als sich eine der Türen öffnete.
„Kommen Sie bitte herein, Frau Weber?“
Georgina stand auf. Gleichzeitig trat eine Frau aus der Tür, ging auf Amy zu und beugte sich zu der Kleinen.
„Kommst du inzwischen mit mir?“, fragte sie das Kind.
Amy sah sie an, hielt dennoch weiter die Hand der Mutter fest.
„Willst du nicht unserem Kater Mäxchen ‚Hallo‘ sagen?“, fragte die Beamtin.
„Du hast hier eine Katze?“, fragte Amy. Die vorsichtige Neugierde in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Mäxchen gehört uns allen. Er wohnt im Büro. Mein Kollege hat ihn mitgebracht, weil sein Frauchen …“ Kurz nur zögerte die Beamtin, dann sprach sie mit derselben freundlich-ruhigen Stimme weiter. „Sein Frauchen konnte nicht mehr für ihn sorgen, weißt du. Mäxchen sollte ein neues Zuhause bekommen. Aber er ist bei uns geblieben und wir haben ihn adoptiert.“
„Was heißt das, adopiert?“, fragte Amy.
Die Blicke von Georgina und der Beamtin kreuzten sich.
„Das macht man, wenn jemand keine Eltern mehr hat“, sagte Georgina.
„Also hat Mäxchen jetzt wieder Eltern. Kann man denn viele Leute als Eltern haben?“, fragte Amy.
Diesmal lächelte die Beamtin, als sie sich aufrichtete. „Ich glaube, Mäxchen würde sich über einen Besuch von dir sehr freuen. Magst du Katzen, Amy? Mäxchen lässt sich bestimmt gerne streicheln.“
Georgina ließ die Hand der Tochter los. „Geh nur, mein Schatz. Es dauert bestimmt nicht lange. Dann können wir beide nach Hause. Und du bekommst ein Eis. Okay?“
Amy nickte. Übergangslos schob sich ihre Hand in die der Beamtin, zusammen entfernten sie sich, den Gang entlang. Nur einmal noch drehte sich Amy nach der Mutter um, die auf die offene Bürotür zuging.
Als Georgina Möbius in das Büro trat, saß hinter dem Schreibtisch ein Mann. „Guten Tag, Frau Weber“, begrüßte er sie. Sein Gesicht war ihr unbekannt.
Dafür kannte sie den anderen Mann, der sich bei ihrem Eintritt erhob, umso besser.
Georgina verhielt den Schritt und sah ihm entgegen.
„Ma’am“, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger an seine nicht vorhandene Kappe.
Georgina reichte ihm die Hand. „Guten Tag, Sergeant.“
„Das hier ist mein Berliner Kollege, Dezernatsleiter Karl Braunstein. Er ist ab sofort Ihr Ansprechpartner, wann immer Sie Hilfe brauchen.“
„Setzen wir uns doch bitte“, sagte Braunstein freundlich. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee?“
Georgina schüttelte den Kopf.
„Dann wollen wir gleich zur Sache kommen“, fuhr Braunstein fort. „Sergeant Walker hat Ihnen bereits alles erklärt. Hier sind Ihre neuen Ausweise. Führerschein, Reisepass, Sozialversicherungskarte. Und in dem Ordner befinden sich die Papiere. Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis, Zeugnisse. Alles, was Sie brauchen. Falls weitere Fragen auftauchen – oder Sie etwas benötigen –, ich bin immer für Sie erreichbar.“
Er öffnete die Schublade, entnahm eine Visitenkarte, drehte sie um und schrieb etwas auf die Rückseite.
„Meine persönliche Handynummer. Gibt es Fragen?“
Georgina schüttelte den Kopf, während sie die Karte in ihrer Handtasche verstaute.
Braunstein lehnte sich zurück.
„Dann bringe ich Sie jetzt in Ihr neues Zuhause, Frau Weber“, meldete sich Sergeant Walker zu Wort. „Sie und Amy.“ Kurz hielt er inne und musterte Georgina. „Geht es Ihnen gut? Sie sind so blass.“
„Es ist nichts.“
Walker ging zur Anrichte, gab ihr ein Glas mit Wasser.
„Danke“, sagte Georgina.
Beim Hinausgehen griff Walker nach ihrem Arm, hielt ihn unterstützt, während sie den Gang entlanggingen.
„Es ist vorbei, Gina“, sagte er sanft. „Sie waren sehr tapfer.“
Für einen Moment schien es, als würde Georgina den Kopf an seine Schulter lehnen wollen.
„Es wird niemals vorbei sein“, sagte sie. „Nicht, solange er lebt.“

***

„Shit.“
Roberto Lopez fasste sich an den Kopf und fuhr durch sein dichtes, dunkles Haar, das dringend eines Friseurs bedurft hätte. Falls überhaupt möglich, zerwühlte er es noch mehr und fluchte wieder.
Ein wenig benommen setzte er sich auf. Zeitgleich suchte er seine Taschen nach Zigaretten ab, entdeckte eine Schachtel neben dem überquellenden Aschenbecher, doch nur um festzustellen, dass sie leer war. Er zerknüllte das Päckchen und warf es in Richtung Mülleimer, ohne dass er hineintraf.
In seiner Jackentasche wurde er dann fündig, klopfte eine Zigarette aus dem Päckchen und schob sie zwischen die Lippen. Mit einem Klicken öffnete sich das Benzinfeuerzeug. Gleich darauf zog Roberto den Rauch in die Lungen, hockte dann auf der wackeligen Bank, die ihm als Schlafstatt gedient hatte. Wie in so mancher Nacht, wenn er zu viel getrunken hatte, um nach Hause zu gehen, oder aber, was noch öfters vorkam, er keine Lust dazu verspürte.
Wozu hätte er heimgehen sollen? Was erwartete ihn dort, das er hier nicht ebenfalls hatte?
Mit steifen Gliedern erhob er sich, streckte die Arme, registrierte die zerknitterte Kleidung und zuckte die Schultern.
Die Zigarette im Mund trat er an den Kühlschrank, auf dem eine Kaffeemaschine stand. Roberto goss Wasser in den Behälter, löffelte Kaffeepulver in den Filter, setzte den Aufsatz auf die Kanne und drückte den Einschaltknopf.
Dann öffnete er den Kühlschrank. Suchte und fand eine fast leere Flasche Kondensmilch und ein Glas mit Zucker, das er der Einfachheit halber dort aufbewahrte. Dem Tellerchen aus Porzellan, in dem er seine Zigarette ausdrückte, fehlte ein Stück des Randes.
Er nahm die Flasche und ließ das Wasser in seine trockene Kehle rinnen, beobachtete, wie der Kaffee in die Glaskanne floss, nahm den aromatischen Duft wahr, der sich in den Zigarettenrauch mischte.
Als genügend da war, um die Tasse zu füllen, die abzuwaschen sich länger niemand die Mühe gemacht hatte, zog er die Kanne unter dem Aufsatz hervor, ohne sich darum zu kümmern, dass der Apparat weiterlief und Kaffee auf der Warmhalteplatte zischte.
Er gab Zucker und Milch in die Tasse, nahm einen ersten Schluck, stellte die Kanne achtlos ab und ging zur Sitzgarnitur zurück.
Mit einem Laut, der ebenso ein Stöhnen wie ein Knurren hätte sein können, ließ er sich auf die Couch fallen, die ihm eben noch als Schlafstatt gedient hatte. Erst nach der nächsten Zigarette lehnte er sich entspannt zurück und streckte die Beine aus.
Dämmriges Licht drang zum Fenster herein, und Roberto warf einen Blick auf die Uhr. Konsequent ignorierte er den Umstand, dass die Frühaufsteher unter den Kollegen demnächst ins Büro kommen würden. Wozu auch? Ihn sollten sie kaum stören.
Längst schon hatten es sich die meisten abgewöhnt, bei Roberto hereinzukommen. Was nicht nur an dem Zigarettenqualm lag, sondern auch an Robertos Laune, die am Morgen noch unvorhersehbarer war als am Abend.
Dennoch war er nicht unbeliebt bei den Kollegen, aus Respekt vor seinem journalistischen Können, der Art, seine Kolumnen abzufassen und selbst aus Banalitäten einen packenden Artikel zu machen. Und nicht zuletzt an seinem Gespür, das ihn eine gute Story erkennen ließ, noch ehe sie überhaupt stattfand.
Man ließ ihn in Ruhe. Selbst sein Vorgesetzter hatte es aufgegeben, Roberto Vorschriften zu machen, wenn er – das generelle Rauchverbot ignorierend – sogar in seiner Gegenwart rauchte.
Roberto war dreiundvierzig Jahre alt und hatte einen beträchtlichen Teil seines Berufslebens an Orten verbracht, wo andere niemals hinwollten: auf Kriegsschauplätzen, in den Elendsvierteln dieser Erde, den Favelas, Müllhalden und Flüchtlingslagern.
Er hatte Tote gesehen und selbst zur Waffe gegriffen, wenn es um die letztgültige aller Fragen ging: ich oder der andere.
Irgendwann war es zu viel geworden, Roberto zu ausgebrannt, um weiterzumachen. Er hatte seinen Job an den Nagel gehängt und sich zurückgezogen. Auf diese Insel, die so etwas Ähnliches wie der Deutschen 17. Bundesland war.
Hier lebte er schon seit Jahren. Und hatte sich ein Informantennetz aufgebaut, welches sicherstellte, dass ihm nichts entging, woraus sich eine gute Story machen ließ.
Waren es in seiner Sturm- und Drangzeit die spektakulären Berichte gewesen, die er den großen Agenturen verkauft hatte, so waren es jetzt die kleinen, die bescheideneren Geschichten über menschliche Schicksale, die er in der Lokalzeitung der Insel verbreitete. Doch sein emotionaler Einsatz hatte sich nicht geändert. Und auch nicht sein Lebensstil.
Er war kommunikativ und zurückgezogen gleichermaßen. Liebte es, die Nacht zum Tag zu machen, und fand höchste Entspannung bei der Betrachtung eines Sonnenaufgangs inmitten unberührter Natur.
Eine Frau gab es in seinem Leben nicht. Wozu auch? Waren doch genügend andere da.
Auch mit Prostituierten pflegte er Kontakt, mit denen er allerdings nichts anderes machte, als sich nächtelang zu unterhalten. Drogenabhängige waren ebenso unter seinen Gesprächspartnern – die er mit Stoff versorgte und anschließend zur Polizei begleitete –, um ihnen einen Therapieplatz zu verschaffen.
Nicht nur einmal hatte er eine Frau in seiner Wohnung verborgen, die Schutz suchte vor der Gewalttätigkeit ihres Mannes. Und so manchem Flüchtling Geld gegeben, sei es auch nur, um ihn davor zu bewahren, auf den Strich zu gehen.
Roberto selbst bevorzugte unverbindlichen Sex mit Frauen, von denen er wusste, dass sie umgehend wieder verschwanden. Urlauberinnen, die die Zeit mit ihm genossen und sonst keine Fragen stellten.
Es gab kaum ein Gesetz, das Roberto Lopez im Laufe der Zeit nicht übertreten hatte – etwas, das ihn stolz machte.
Ein einmal gegebenes Wort aber brach er niemals. Und einen Freund hatte er nie im Stich gelassen.
So lebte er sein Leben. Und keiner hatte das Recht, sich darin einzumischen.
Als Roberto bei der dritten Tasse Kaffee angelangt war – überlegte, ob es überhaupt lohnte, nach Hause zu gehen, zu duschen und sich umzuziehen oder ob es nicht klüger wäre, stattdessen die Insel zu durchkämmen, nach etwas, das sich zur Story machen ließ –, dachte er an die letzte Nacht zurück.
Dabei streifte sein Blick die Whiskyflasche auf dem Couchtisch. Sie war von allerfeinster Marke und ein leises Bedauern beschlich Roberto bei der Erkenntnis, dass sie nicht nur leer war, sondern sein Budget den Ankauf eines derart edlen Tropfens in absehbarer Zeit auch nicht zulassen würde.
Dann erinnerte er sich an seinen Besucher, der dieses kostbare Getränk mitgebracht hatte.
Vicent Rius, Chefinspektor im Ruhestand. Und aktiver in Ermittlungen involviert denn je, seit der Polizeipräsident selbst ihn als Doyen der Polizeiabteilung zurückbeordert hatte. Als „Aktion Erfahrung“ hatten sie es der Öffentlichkeit verkauft.
Roberto schmunzelte, wusste er doch genau, dass dieser Schachzug auf José Alvarez’ Konto ging, wenn auch unbeabsichtigt. Denn Vicent Rius und seinen ehemaligen Vorgesetzten verband eine legendäre und erbitterte Gegnerschaft.
Doch am gestrigen Abend war es nicht um Polizeiinformationen gegangen, um gemeinsame Schachzüge, die Alvarez ärgern sollten, und auch nicht darum, einen Fall zu lösen.
Vielmehr war es Vicent Rius’ Privatleben, das sich schlagartig geändert hatte, seit dem Tag, an dem der Chefinspektor seine Maria getroffen hatte.
Seither war einer von ihnen beiden nicht länger einsam, dachte Roberto versonnen und griff nach den Zigaretten.
Während er dem Rauchkringel nachsah, versuchte er, den Umstand zu belächeln, dass Vicent Maria jetzt sogar heiraten wollte. Und ihn, Roberto Lopez, gebeten hatte, Trauzeuge zu sein.
Doch er konnte es nicht belächeln.
Etwas in seinem Innersten verselbstständigte sich. Da war dieses Gefühl der Rührung, gegen das er sich nicht zu wehren vermochte.
Roberto schätzte Maria sehr. Sie war die Richtige für Vicent, davon war er überzeugt. Denn er hatte den Ausdruck in den Augen des Mannes gesehen, den er als Einzigen seinen Freund nannte.
Und dieser Ausdruck war es, der in Roberto einen Hauch von Wehmut hervorrief, eine unbekannte Sehnsucht, die sich nicht einordnen ließ. Außerdem war er stolz, Vicents Trauzeuge sein zu dürfen. Obwohl er das nicht zugegeben hätte.
Roberto stand auf. Anschließend drückte er die Zigarette aus und übersah geflissentlich, dass aus dem überfüllten Aschenbecher einige Stummel auf die gläserne Platte des Couchtisches fielen.
Dann stopfte er das Hemd in den Hosenbund, suchte zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch nach dem Wagenschlüssel, griff nach dem Portemonnaie, das er auf einem der Polsterstühle entdeckte, und verließ das Büro.

***

Georgina Möbius schreckte aus dem Schlaf. Da war es wieder, dieses Geräusch, das sie geweckt hatte. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Doch nur ihr eigener Atem war zu hören und sie spürte, wie ihr Herz hämmerte. Angst lähmte sie, kroch von den Zehenspitzen aufwärts und drückte ihr die Kehle zu.
Um überhaupt Luft zu bekommen, atmete sie in kleinen, flachen Stößen.
Und da war es wieder. Ein kratzendes, raschelndes Scharren, das von der Haustür herkam.
Gina schrie auf. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, schlug sich den Zeh am Bettpfosten an, achtete nicht auf den Schmerz und rannte zum Bett ihrer Tochter.
„Mami.“
Amy war aufgewacht. Sie bekam nicht mit, was geschah, doch sie spürte die Angst der Mutter und fing an zu weinen.
Georgina riss sie aus dem Bett und drückte sie an sich.
„Scht. Alles in Ordnung, mein Liebling. Es ist nichts passiert. Wir spielen nur Verstecken. Willst du das? Wie wir zwei es letztens auch gespielt haben. Nicht weinen, Amy. Du musst leise sein. Erinnerst du dich? Wir wollen doch nicht, dass uns jemand findet.“
Das Weinen verstärkte sich, obwohl Amy ganz offensichtlich versuchte, es zu unterdrückten. Gleich darauf bekam sie Schluckauf.
„Ruhig, mein Schatz.“ In Ginas Stimme war nichts als Furcht.
Mit dem Kind im Arm lief sie ins Schlafzimmer zurück. Das Kratzen an der Tür verstärkte sich.
Georgina war dermaßen in Panik, dass sie nicht mehr denken konnte. Wie ein Tier, das in die Falle getrieben wurde, nicht herauskommen konnte, nur noch funktionierte, ohne jede Gegenwehr.
Bloßer Instinkt ließ sie im Vorbeilaufen ihr Handy nehmen, während sie auf ihr Bett zusteuerte.
Das Kratzen hallte in ihrem Kopf und Gina war klar, dass es eine Frage von Sekunden wäre, bis man die Tür aufbrach.
Die Arme schützend um Amy warf Gina sich auf die Knie, presste ihren Körper gegen den Kunststoffbelag des Bodens und robbte unter das Bett.
Amy wimmerte, und Gina kämpfte gegen die Wellen aus Angst – die tanzenden Sterne vor ihren Augen, die sie fast die Besinnung verlieren ließen.
Immer noch umklammerte ihre Hand das Telefon. Das Display war beleuchtet, sie musste an einen der Knöpfe gekommen sein.
Georgina versuchte, die Furcht zurückzudrängen. Du musst Hilfe holen. Sie sind hier. Sie werden dich umbringen. Dich und Amy. Es war alles umsonst.
Sie dachte nicht mehr daran, leise sein zu wollen. Nichts war wichtig, außer diese Telefonnummer zu wählen. Wie sie es Hunderte von Malen eingeübt hatte. Immer in der Hoffnung, dass der Fall niemals eintreten würde, in dem sie diese Hilfe brauchte.
Es gelang ihr, die Rubrik mit den Favoriten zu öffnen. Hier war sie, die Nummer, sie brauchte nur noch den Knopf zu drücken und das Gespräch herstellen.
Doch hatte sie überhaupt eine Chance? Wie lange würde es dauern, bevor Hilfe kam?
Jedenfalls zu lange. Es konnten nur noch wenige Augenblicke sein, bis die Eingangstür nachgab. Danach gab es kein Entrinnen mehr. Danach hatten sie gewonnen.
Doch das durfte nicht sein – um Amys willen nicht, bitte, lieber Gott.
„Polizeinotruf. Können Sie mich hören? Was ist passiert? Melden Sie sich.“