Chefinspektor Vicent Rius Teil 3 Arme Mörder

Als Chefinspektor Vicent Rius an diesem Vormittag durch Palmas Straßen ging, war er schlechtester Laune, was ungewöhnlich war.

Früher, da war er schon manchmal gereizt oder ungeduldig gewesen, dann nämlich, wenn er mit seinen Ermittlungen nicht so recht vorankam – oder wieder einmal mit José Alvarez aneinandergeraten war, seinem Vorgesetzten.

Seit er aber seinen wohlverdienten Ruhestand genoss, war Vicent Rius eigentlich bestens aufgelegt. Was allerdings nicht am Ruhestand allein sondern vielmehr an einer Person lag: an Maria.

Genau deshalb war er heute besonders übellaunig, denn vor etwas mehr als einer Stunde hatte er sich von ihr verabschiedet. Am Flughafen. Maria war nach Barcelona geflogen, zu einer entfernten Verwandten.

Vicent war also allein. Jetzt wusste er nicht, wie er diese Tage ohne Maria überleben sollte.

Dabei war Vicent früher – in einem anderen Leben gewissermaßen – meist allein gewesen. Was natürlich auch an seinem aufreibenden Job bei der Mordkommission gelegen hatte, mit all dem Stress und den nächtelangen Recherchen. Denn Vicent war mehr als bekannt dafür gewesen, sich in seine Fälle hineinzuverbeißen – was auch bewirkte, dass er bei laufenden Ermittlungen öfters ungenießbar war. Vor allem dann, wenn die Dinge nicht so liefen, wie er es wollte.

Doch jetzt gab es Maria in seinem Leben. Sie war ihm zugefallen wie ein Stern, der plötzlich vom Himmel sinkt.

Schon bei ihrem allerersten Treffen, im Flur des gemeinsamen Wohnhauses, hatte sich ihm Marias Gesicht für immer eingeprägt. Was Vicent eine Zeitlang noch mit einer Art Berufskrankheit zu erklären versuchte.

Doch Maria war ihm buchstäblich unter die Haut gekrochen. Von da an lauschte er ihren Schritten, wenn sie die Wohnung unter der seinen betrat, witterte förmlich ihr Parfum im Treppenhaus und ertappte sich dabei, wie er an sie dachte, wenn er nachts nicht schlafen konnte, weil er sich mit seinen Mördern herumschlug.

Bis er begriff, dass es Maria selbst war, die ihm den Schlaf raubte. Und dann war sie zur Tür hereingekommen, und Vicents Einsamkeit hatte aufgehört zu existieren.

Doch jetzt war Maria fort.

Der Chefinspektor in Ruhe stellte seinen Mantelkragen auf, denn der Wind, der vom Meer her wehte, war immer noch kalt. Auch wenn der Frühling bereits Einzug hielt und auf den Rainen, entlang der gepflügten Felder, eine Unzahl Blumen sprießen ließ.

Vicent dachte weiter an Maria und fühlte sich dabei zunehmend wie ein Hund, den man im Nirgendwo ausgesetzt hatte.

Warum nur war er nicht mitgeflogen, fragte er sich zum wiederholten Mal. Dabei sah er Marias samtbraune Augen vor sich, die ihn zärtlich musterten.

Nur weil sie beide nicht verheiratet waren, hatte diese Verwandte ihn auf die Couch ins Wohnzimmer verbannen wollen. Möge Gott ihn vor allen diesen Betschwestern beschützen, dachte Vicent ergrimmt. Maria aber hatte beim Überbringen der Botschaft gekichert wie ein kleines Mädchen.

Warum bloß war er so stur gewesen?

„Es sind ja nur drei Nächte“, hatte er gemeint und so getan, als wäre es ihm egal, dass sie ohne ihn flog.

Drei Nächte. Vier Tage. Und über achtzig Stunden, dachte Vicent immer noch erbost.

Kurz darauf fuhr er sich mit der Hand unter den Hemdkragen. Ungeachtet des Windes wurde ihm plötzlich heiß, und er blieb stehen. So abrupt, dass der Mann, der hinter ihm ging, beinahe auf ihn aufgelaufen wäre.

War das vielleicht ein versteckter Hinweis gewesen? Hatte ihm Maria zu verstehen gegeben … wollte sie ihn denn heiraten?

Der Gedanke, der ihn in der Zeit vor Maria zum sofortigen Rückzug veranlasst hätte, bewirkte lediglich, dass Vicent noch nervöser wurde. Wie sollte er es herausfinden? Was, wenn er sich irrte? Wenn er sie missverstand?

Als sein Handy läutete, riss Vicent es aus der Jackentasche und nahm den Anruf entgegen, noch bevor er auf das Display sah.

„Hola Vicent. Störe ich dich?“, fragte eine Stimme, die er sofort als die von Salvatore Pons erkannte.

Irgendwann hatten sie sich bei einem der Fälle kennengelernt, danach wiedergetroffen, als Salvatore selbst Hilfe benötigte. Seither trafen sie einander in unregelmäßigen Abständen auf ein Bier. Denn Vicent lebte im Westen der Insel und Salvatore im Osten.

Aber sie schätzten einander. Mehr noch, sie waren einander zugetan.

„Was gibt es denn? Wie geht es dir, mein Freund?“, fragte Vicent und seine Laune besserte sich mit jedem Satz.

„Mir persönlich ganz wunderbar“, sagte Salvatore und seine sonst eher ruhige Stimme klang unverkennbar freudig.

Vicent schmunzelte, war er doch vor nicht allzu langer Zeit bei Salvatores Hochzeit zu Gast gewesen. Zusammen mit Maria.

„Da ist etwas, was uns irgendwie beunruhigt. Dieser verschwundene Asiate. Du wirst davon gelesen haben, in der Zeitung. Ich habe ihn gekannt“, hörte Vicent Salvatore weiterreden.

Auch das war eine Eigenschaft, die Vicent so an Salvatore schätzte. Menschen, die sagten, was sie wollten. Nicht erst lange herumredeten.

„Hättest du Zeit? Könnten wir uns treffen?“

Nicht, dass Vicent Maria in diesem Augenblick vergessen hätte, denn das war gar nicht möglich. Die Erinnerung an sie war tief in seinem Herzen festgeschrieben. Doch seine Gedanken flogen gleichzeitig zu Salvatore. Und dem, was er ihm zu erzählen hätte.

 

***

 

„Das ist kein Fall für uns, jefe“, sagte Sanchez und blickte zu Boden. Dabei drehte er an dem Stiel des Glases, das vor ihm auf dem kleinen, schwarzen Holztisch stand. Sie hatten sich hier getroffen, in dem Bistro mit dem Gastgarten unter den großen Platanen der Avenida. Auch früher hatten sie hier manchmal einen Espresso getrunken.

Sie waren Kollegen gewesen. Besser gesagt, war Vicent Sanchez´ Vorgesetzter.

Inzwischen hatte Sanchez es trotz seines jugendlichen Alters selbst zum Chefinspektor gebracht.

Alvarez sei Dank, dachte Vicent und verzog kurz die Mundwinkel nach unten. Dann erinnerte Vicent sich, dass es gerade Sanchez´ Unerfahrenheit zu danken war, dass man ihn zum Doyen der Abteilung erkoren hatte, um ihn auch offiziell, trotz seines Ruhestandes, um Mithilfe bitten zu können.

Als „Aktion Erfahrung“, hatte es anschließend der Polizeichef persönlich einer erfreuten Öffentlichkeit präsentiert.

Plötzlich lächelte Vicent wieder.

„Und du sollst mich nicht immer siezen“, schnauzte er.

„Ja, jefe“, sagte Sanchez und sah weiter zu Boden.

„Natürlich haben wir einen Fall“, fuhr Vicent fort. „Señora Buntbart ist überzeugt davon, dass ihr Bruder nicht nach Thailand zurückgekehrt ist. Sie vermutet vielmehr, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Zumindest sagt sie das.“

„Es gibt aber kein einziges Indiz für ein Verbrechen. Dieser Señor – wie heißt er gleich?“ Sanchez nahm einen vorsichtigen Schluck.

„Chaipatana“, half Vicent freundlich.

„Hm … dieser Chai …“, Sanchez räusperte sich. „Dieser Bruder von der Señora … Wenn wir jeden suchen müssten, der beschließt, ein Flugzeug zu besteigen, hätten wir sicher nichts anderes mehr tun. Sie sagten ja selbst, dass Señora Buntbart sich zuvor mit ihrem Bruder gestritten hat.“

„Danach ist Wuttipong Chaipatana zur Guardia Civil gegangen und hat angegeben, dass seine Schwester ermordet worden sei.“

„Schon“, wand sich Sanchez. „Aber davon weiß dort keiner etwas. Jedenfalls ist es nicht aktenkundig“, murmelte er dann. „Außerdem ist die Schwester ganz offensichtlich am Leben, sonst hätte sie diesen … Wutti nicht als vermisst melden können.“

„Du kannst ihn Pong nennen“, half Vicent. „So wurde Chaipatana offenbar in der Familie genannt.“

„Die Schwester lebt“, rief Sanchez beinahe verzweifelt und rutschte auf dem Stuhl herum.

„Das genau ist die Frage, die es zu klären gibt. Pong hat meinem Freund Salvatore Pons gegenüber behauptet, Señora Buntbart sei nicht seine Schwester.“

„Dieser Wuttiping ist doch verrückt“, rief Sanchez. „Das genau sagt ja auch seine Schwester.“

„Pong“, korrigierte Vicent und trank ebenfalls einen Schluck. „Und ob sie seine Schwester ist, wissen wir nicht.“

Sanchez rutschte weiter auf dem Stuhl herum. Er sah wie ein Schüler aus, der wusste, dass er seine Hausaufgabe nicht erledigt hatte.

„Natürlich ist sie das. Señora Namwan Buntbart, geborene Chai … äh … pong oder wie auch immer, ist definitiv die Schwester von diesem Wutti“, insistierte Sanchez. „Das haben wir überprüft.“

„Und warum habt ihr nicht überprüft, ob Pong die Insel verlassen hat?“, fragte Vicent und seine Stimme wurde eine Nuance lauter. Sanchez zog die Schultern höher.

„Dazu bestand keine Veranlassung.“

„Und dass auf der Guardia Civil kein Protokoll existiert, wenn jemand einen Mord anzeigt, dazu besteht vermutlich auch keine Veranlassung?“

Sanchez duckte sich noch tiefer in den Stuhl.

„Ich habe die Kollegen befragt. Es … es kommen öfters Verrückte. Noch während man auf den Dolmetscher gewartet hat, ist zum Glück Señora Buntbart erschienen. Sie lebt einige Jahre hier … sie hat alles aufgeklärt. Ihr Bruder leidet unter gelegentlichen Wahnvorstellungen … und wenn die angeblich Ermordete lebt, gibt es keinen Mordfall“, beendete Sanchez seinen Satz beinahe trotzig.

„Und wo ist Pong jetzt?“, fragte Vicent.

Sanchez zuckte die Schultern. Inzwischen wirkte er immer mehr wie ein trotziges Kind.

„Dann werde ich dir einmal etwas sagen“, erhob Vicent seinen dröhnenden Bariton. „Wenn du Kriminalist sein willst, musst du dich auf dein Gefühl verlassen können. Das habe ich dir immer gepredigt. Und mein Gefühl sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt. Also überprüfen wir das jetzt zusammen oder …?“

Wenn möglich sackte Sanchez noch mehr zusammen. „Dafür erhalte ich vom Chef keine Genehmigung.“

„Dann lass uns Fakten zusammentragen, bevor du Alvarez vor vollendete Tatsachen stellst.“