Endlich. Und diesmal hoffentlich für immer.
Fernanda Uribe Santos zog den Sicherheitsgurt ein wenig enger.
Durch das winzige Fenster hindurch beobachtete sie, wie sich die glänzende Tragfläche des Flugzeugs anhob und die Sicht auf die Bucht von Palma verstellte. Kurz war nichts anderes als der Himmel zu sehen, während die Maschine in einem eleganten Bogen die beim Start vorgegebene Richtung änderte.
Tief unten breitete sich das Mittelmeer aus. Schnell gewann das Flugzeug an Höhe, wie Spielzeug wirkten jetzt die Häuser der Hauptstadt.
Ein letzter Blick auf die hohen Gipfel der Serra de Tramuntana, dann war auch das vorbei. Nur noch Wasser war zu sehen und der blitzblaue Himmel.
Das Licht der Sonne spiegelte sich in dem schimmernden Flügel, ließ ihn funkeln und blendete Fernanda, sodass sie den Blick abwenden musste.
Ihr Nachbar zur Linken blätterte eine weitere Seite der Zeitschrift um, in der er schon vor dem Start ständig gelesen hatte. „Perdón“, sagte er, als er mit dem Ellenbogen an ihr anstieß.
„Perdón“, sagte auch Fernanda ein wenig später, öffnete den Gurt und drehte ihm das nicht unattraktive Gesicht zu. Dabei strich sie eine Strähne der dunklen Haare aus ihrer Stirn.
Der Mann im Nebensitz musterte sie schweigend, faltete dann umständlich die Zeitung, bevor auch er an dem silbernen Verschluss zu hantieren begann und schließlich aufstand.
Fernanda drängte sich an ihm vorbei, rüttelte an dem Fach über ihrer Sitzreihe.
„Bitte, bleiben sie sitzen“, rief die Flugbegleiterin, während sie sich hastig aus dem Sitz schälte, in dem sie seit dem Start angeschnallt war. Eilig kam sie durch den Gang herbei. „Wir haben unsere Flughöhe noch nicht erreicht.“
„Lo siento“, sagte Fernanda, „es tut mir leid, mir ist nicht gut.“ Es war nur die halbe Wahrheit.
Ihr war tatsächlich nicht gut. Was sich nicht zuletzt auf die Flugangst zurückführen ließ – mehr aber noch auf die Mischung aus verschiedenen Medikamenten, die sie in den letzten Tagen ziemlich wahllos geschluckt hatte.
Bis zum Schluss war sie nicht sicher gewesen, ob es gelingen würde. Immer wieder hatte sie nach ihrer Handtasche gesehen, die sie in den Tiefen des alten Kleiderschranks versteckt hielt und in der sich ihr Pass, ihr Geld und das Flugticket befanden.
„Bitte, lass es ihn nicht merken“, war alles, was sie in den letzten achtundvierzig Stunden hatte denken können.
Er soll pünktlich wie immer in dieser Bar verschwinden, wo er sich volllaufen lassen kann. Ich will nur frei sein.
Alles war genau geplant. Keiner wusste davon.
Nur ihrer Mutter in Bogotá hatte sie es mitgeteilt – von einem dieser Telefonlokale aus. War eigens mit dem Bus nach Palma gefahren und hatte sich krank gemeldet an jenem Tag. Nachher hatte sie ein wenig Ärger bekommen, weil sie keinen Bestätigungsschein beibringen konnte und eine Geschichte erfinden musste.
Egal. Auch das war vorbei.
Viel mehr als alles andere belastete sie das Geld. Es lag schwer auf ihrer Seele, schlug sich ihr auf den Magen und bereitete zusätzliche Übelkeit.
Sie hatte es gestohlen. Es stehlen müssen. Denn nicht einen einzigen Cent von dem, was sie verdiente, durfte sie behalten.
Alles nahm er ihr ab. Esteban. Ihr Mann. Jeden Euro musste sie abrechnen. Nicht einmal Schokolade durfte sie für sich kaufen. Die ganz besonders nicht. Wusste Esteban doch genau, wie gerne sie Süßigkeiten aß.
Fernanda fand, was sie suchte, holte die dunkelrote Pappschachtel mit den aufgedruckten Pralinenfotos aus der Plastiktüte und zwängte sich wieder in ihren Sitz zurück.
Der Nachbar schüttelte nur leicht den Kopf, während die Flugbegleiterin sich wieder entfernte.
Sie würde es beichten müssen, dachte Fernanda und sah weiter aus dem Fenster. Gleich wenn sie zu Hause war.
Während sie überlegte, beschäftigten sich ihre Finger mechanisch mit dem Karton, rissen ihn auf, und der herbe Geruch von Kakao stieg ihr in die Nase.
Es war nicht in Ordnung, alte Menschen zu bestehlen. Stehlen war eine schwere Sünde. Noch nie zuvor hatte sie so etwas getan.
Fernanda zog eine der nach Rum duftenden Pralinen heraus und führte sie zum Mund.
Sie hatten es mit Sicherheit nicht bemerkt. Außerdem brauchten sie das Geld überhaupt nicht. Es war mehr eine Gewohnheit, dass man ihnen Geld zur freien Verfügung ließ. Meistens verloren sie es ohnehin, oder verschenkten es. Obwohl das Personal eigentlich nichts annehmen durfte.
Diese Menschen waren nicht mehr in der Lage, etwas zu merken. Und wenn doch, würde ihnen niemand glauben.
Darum hatte man sie auch in dieses Heim abgeschoben. Sie waren lästig – und mühsam. Und überdies den ganzen Tag auf Hilfe angewiesen.
Dieses Schicksal sollte ihrer eigenen Mutter erspart bleiben, schwor sich Fernanda, während sie nach einer weiteren Praline angelte.
Sie würde sich um ihre Mutter kümmern. Auch dazu kam sie schließlich nach Hause zurück. Und das Geld würde für eine Zeit lang ausreichen. Bis sie wieder Arbeit fand.
Mühsam hatte sie es zusammengetragen. Immer nur einige wenige Euros auf einmal genommen.
Nicht nur, damit niemand Verdacht schöpfte. Auch deshalb, weil sie sich gescheut hätte, ihren Schützlingen alles abzunehmen – stets darauf wartete, wenn am Monatsersten einige neue Münzen dazukamen, die sie in ihren Portemonnaies verstauten, glücklich, wie kleine Kinder.
Bleierne Müdigkeit stieg in Fernanda auf. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten.
Alles war zu viel gewesen. Vielleicht sollte sie nicht weiter ankämpfen. Immerhin versäumte sie nichts. Erst in Madrid musste sie umsteigen. Bis dahin konnte sie sich ein wenig ausruhen.
Kurz schwankte die Maschine noch, dann wurde es dunkel.
Dass ihre Hand erschlaffte, die Pralinen aus der Schachtel glitten, über den Boden kollerten, sich unter den Sitzen verrollten, merkte Fernanda nicht mehr…